Odra-Oder. Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines europäischen Kulturraums - 1Odra-Oder. Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines europäischen Kulturraums - 2

Odra-Oder. Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines europäischen Kulturraums

[ Dokumentation ]
Die Oder - Vorüberlegungen zur Kulturgeschichte eines europäischen Stromes
Von Prof. Dr. Karl Schlögel

Einleitung:
Zur Begründung eines riskanten Versuchs

Eigentlich ist es viel zu riskant, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, einen Vortrag über die Oder zu halten, auch wenn er vorsichtig als „Vorüberlegungen" angekündigt ist. Es war mir im Augenblick, da das Programm der gemeinsamen Ringvorlesung mit Breslau festgelegt wurde, nicht in allen Konsequenzen klar, worauf ich mich selbst eingelassen hatte: den Strom, über den ich sprechen möchte, kenne ich bisher nur streckenweise und punktuell, ich bin noch nie von den Quellen bis zur Mündung gefahren; die Literaturlage ist auf eine charakteristische Weise defizient, die Vorarbeiten sind mehr als bescheiden. Es ist also ein Thema, das wie der Strom selber, voller Untiefen und Wirbel, in denen jemand, der sich mit den Eigentümlichkeiten des Gewässers nicht auskennt, untergehen kann. Und dennoch möchte ich den Versuch unternehmen aus verschiedenen Gründen.

Die Oder ist die Hauptsehenswürdigkeit, die ich Gästen, die in die Stadt kommen, zu zeigen pflege. Es scheint, daß es auch der brandenburgische Kurfürst so gesehen hat, denn mit dem Junkerhauses - dem Sitz des heutigen Viadrina-Museums - für die in Frankfurt studierenden Adels-Kinder hat er nichts anderes gebaut als einen auf die Oder ausgerichteten grandiosen Balkon gebaut. Der Raum in dem wuchtigen frühbarocken Eckturm mit den nach allen drei Seiten gehen großen Fenstern - der schönste Raum, den Frankfurt zu bieten hat - blickt auf die Oder: auf den schnell gehenden Strom, der an dieser Stelle auf das Ufer zuläuft und auf die im Frühjahr oder nach Regenfällen am Oberlauf überfluteten Auen auf der gegenüberliegenden Seite, im Winter auf die meterhoch aufgeschichtete Eislandschaft, die uns mitten in der Stadt ein archaisches Naturschauspiel bereitet, und das ganze Jahr über der Blick auf das Hin und Her auf der Stadtbrücke. Bei Nachfragen der Gäste stellt sich heraus, daß wir meist auf die Fragen, die der Strom aufgibt, nicht zu antworten wissen.

Dies betrifft sogar den engsten Umkreis, die Universität. Die seltsamsten Interpretationen existieren darüber, was eigentlich Viadrina bedeutet. Noch Jahre nach der Gründung der Universität ist nicht eigentlich klar, daß diese Universität nicht nur als Europa-Universität, sondern auch als Oder-Universität gegründet worden ist. Aber es handelt sich hierbei natürlich nicht um ein Problem von Etymologie und Toponymie. Es scheint, daß man in und über das weite Europa besser Bescheid weiss als über die Oder, an deren Ufer die Universität sich befindet. Es scheint, daß das Europa im Namen für Weltläufigkeit steht, die Oder aber für Enge und Provinzialität, mit der man nichts zu tun haben möchte. Wir sind mit dem Namen, also: europäische Oder-Universität - eine ziemlich hohe Verbindlichkeit eingegangen, nämlich: den Ort in seinen europäischen Bezügen zu denken. Das wäre das Gegenteil von Lokalismus und Regionalismus. Es wäre das Programm der intellektuellen Exploration und Aneignung des geschichtlichen Raumes, in dem wir arbeiten. Es wäre im Grunde die Suche nach dem spezifischen intellektuellen Ort dieser Universität in der geistigen oder kulturellen Landschaft des neuen Europa - nicht mehr und nicht weniger. Viadrina ist, solange dies nicht gesehen wird, vorerst nur eine Usurpation.

Schließlich scheint mir, daß, wenn wir schon etwas mit Breslau zusammen machen, eines thematisiert werden sollte, was uns in fast unmittelbar-natürlicher Weise verbindet: die Zugehörigkeit zu dieser durch den Strom mitkonstituierten Region, das schiere vis-a-vis der Viadrina Francofurtana und der Viadrina Vratislaviensa, also der Frankfurter und der Breslauer Oder-Universitäten.

Es ist ein Zufall, wenn auch nicht zufällig, daß in diesem Jahr eine Oder-Ausstellung im Stadtmuseum vorbereitet wird und demnächst die Schlesien-Ausstellung gezeigt wird. Das zeigt nur, daß die Zeit reif geworden ist für die Vergegenwärtigung des Raumes und daß solche Initiativen nicht warten müssen, bis die Universität es sich zum Thema macht. Soweit zur Begründung, warum ich den Versuch trotzdem riskieren möchte.

Vorab möchte ich um Nachsichtt bitten bei all jenen Eingeweihten, die ein Lebtag lang den Strom vor Augen gehabt haben, all seine Windungen und Wendungen kennen und deren Kenntnis auf einer tieferen Verbundenheit beruht als sie durch Studium von Büchern erzielt werden könnte.

Doch nun zur Sache selbst, die ich in folgenden Schritten abhandeln möchte:
Erstens: Was macht die spezifische Eigentümlichkeit des Gegenstandes, des Oderstroms, aus und was verlangt er uns ab?
Zweitens: Was sind die Bilder, die uns helfen, die Fragen zu stellen, die eine Arbeit an einem so komplexen Gegenstand zu strukturieren helfen
Drittens: Was sind die Themen, die uns der Oderstrom aufgibt und die wir an ihm bearbeiten können?
Viertens und abschließend: Ist es - nach all den angestellten Betrachtungen - zutreffend, von der Oder als einem europäischen Strom zu sprechen?

Es folgt ein Postscriptum mit einigen abschließenden Überlegungen.
Der vollständige Text hier zum download.

Veranstaltungsorte
Konferenz: Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
Ausstellung: Reithalle, Logenstraße 15, 15230 Frankfurt (Oder)
Termine
Konferenz: 27.–30. April 2006
Ausstellung: 27. April – 11. Juli 2006
Beteiligte Institution
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
Konferenzband "Odra-Oder. Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines europäischen Kulturraums“
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
Der Band erscheint Anfang 2007 in deutscher und polnischer Sprache.