Zwischen Rückblick und Nabelschau - Playground Polonia
Jacek Slaski

"Als ich nach Berlin ging, dachte ich, das ist eine Großstadt, eine europäische Metropole. In jedem Fall werde ich irgendwo arbeiten gehen, ein bisschen Geld verdienen, eine Wohnung haben. Und? – Nix! Arbeit habe ich nicht, den Ofen heizen wir mit Kohle … Das sind natürlich Kleinigkeiten, aber trotzdem." Die Worte einer polnischen Künstlerin charakterisieren ein Berlin-Bild, das desillusionieren könnte, aber die Jungen kommen dennoch in Scharen in die Stadt, deren Image es ist, arm aber sexy zu sein. Wieder gehen die Polen und Polinnen auf Glückssuche – jetzt sind sie jung, gut ausgebildet, mehrsprachig – nachdem ihre Elterngeneration die karierten großen Einkaufstaschen auf Pendelfahrten in schrottreifen Reisebussen mit von Wodkadunst beschlagenen Scheiben verstaute. Heute stammen die morgendlichen Schrippen inzwischen aus Szczecin und Klangkünstler wie DJ Tommekk, die selbst ernannte "polnische Hitmaschine“, rocken die Nachtclubs und zweisprachig studieren ist mehr als hip.

„Nein. Nach Berlin fährt kein Mensch. Eher nach Mailand oder Paris“, so Tomasz Piątek, ein Warschauer Schriftsteller der jungen Generation. Hat sich Berlin erledigt? Kommt einem die Stadt nur spannend vor, wenn man mittendrin ist, und von außen betrachtet wirken die alten Vorurteile? Natürlich ist Berlin dreckig – zumindest dreckiger als andere westeuropäische Städte. Und ärmer. Hier leben Türken, Araber und andere Migranten.

Das ist vielen Polen fremd. Sie erwarten ein glatteres Bild von westlichen Metropolen. Doch halt! Berlin ist eine der spannendsten Städte Europas, wenn nicht der Welt. Wo gibt es so viele Galerien, Kinos oder Theater und wo leben so viele Künstler? Wo lässt es sich so billig, gut und kreativ leben, wo sonst gibt es dieses Paradies an bezahlbaren Wohnungen? Das wissen und wollen auch junge kreative Polen, die nach Berlin kommen, um hier ins künstlerische Leben einzutauchen – oder einfach nur, um Partys zu feiern. Auch wenn einige versprengte Snobs die noblen Boutiquen der Schickimicki-Städte vorziehen – Luxus ist kein Berliner Charakteristikum. Berlin ist und bleibt Trash. Geld ausgeben kann man woanders besser und zum Geld verdienen wählen junge Polen eher England, Schweden oder Irland. Dort gibt es Arbeit – und dazu ist sie legal. Seit weder deutschstämmige Aussiedler noch die politisch Verfolgten mehr emigrieren, bilden Studenten und eine Klientel, die sich als Boheme bezeichnen würde, die letzte bedeutende Zuwanderergruppe aus Polen. Seit das Zwillingspärchen der Brüder Jarosław und Lech Kaczyński regiert, zieht es auch Lesben und Schwule in die Stadt, weil es der polnischen Queer-Community schlechter geht denn je.

Vorurteile aus dem Sack der Geschichte

Berlin war immer schon ein Anziehungspunkt für Polen – so verrückt es in manchen Ohren klingen mag. Berlin ist doch die Hauptstadt von Deutschland, und aus den Deutschen wurden Nazis, die die Polen überfielen! Aber das ist lange her. Auch wenn viele Ressentiments auf beiden Seiten der Oder noch existieren, die Praxis des Lebens setzt sich durch. Berlin ist bestes Beispiel für die integrativen Fähigkeiten polnischer Immigranten – das Zusammenleben zwischen Polen und Deutschen funktioniert. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kamen wenige, da waren die Erfahrungen noch zu frisch. Doch schon in den 1960er- und 1970er-Jahren begannen die Pioniere der polnischen Nachkriegsemigration ihr neues Leben in der Mauerstadt. In den 1980er-Jahren, als die Mitglieder der Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ von der Regierung verfolgt wurden und der schneeblinde General Jaruzelski den Kriegszustand ausrief, suchten die Auswanderer ihr Glück in West-Berlin. Die Dissidenten, Intellektuellen und Studenten aus dieser Zeit prägen immer noch die Berliner „Polonia“; so nennen sich die hier lebenden Polen.

Zehn Jahre später erfolgten die großen Auswanderungswellen der deutschstämmigen Polen:
Alle, die etwa einen Großvater bei der Wehrmacht hatten, suchten rasch den alten Mitgliedsausweis und gingen nach drüben, in den Westen. Dort warteten die Einbürgerungsämter mit frisch gedruckten bundesrepublikanischen Pässen für das Kohl-Country. Über 40.000 deutsche Polen und polnische Deutsche leben in Berlin, ihre Zahl wächst.

Auch wenn sie nicht so präsent sind wie die Türken mit Imbissen und Gemüseläden, haben sie ihre Spuren im Stadtbild hinterlassen und Berlin um polnische Facetten bereichert: Verstreut über die ganze Stadt arbeiten Polen auf den unterschiedlichsten Gebieten: Sie haben Zeitschriften und Verlage gegründet, es gibt Kneipen, Restaurants und gemeinnützige Vereine. Eine polnische Schule existiert ebenso in Berlin wie einige Galerien und Musikstudios, die von
Polen betrieben werden.

Wir sind´s!

Längst ist Polen im westlichen Europa und somit in der europäischen Staatenfamilie angekommen – auch wenn es immer wieder Verstimmungen im deutsch-polnischen Verhältnis geben wird wie der Streit zwischen den Ewig-Gestrigen unter den Heimatvertriebenen und polnischen Lokalpatrioten oder der Bau der Gas-Pipeline zwischen Russland und Deutschland. In Berlin ist von diesen globalen Themen im täglichen Miteinander zum Glück wenig zu spüren. Dass sich ein entspannter Status quo etablieren konnte, ist der Verdienst der vielen Einwanderer, die den Sinn und die Bedeutung für einen Brückenbau zwischen den Menschen sehen.

Einer von ihnen ist Basil Kerski, 37, Chefredakteur der deutsch-polnischen Publikation DIALOG. Seit nun fast 20 Jahren verfolgt und beeinflusst das Blatt die Diskussionen und Entwicklungen. Das von der Deutsch-Polnischen-Gesellschaft herausgegebene Medium ist mit 12.000 Exemplaren die auflagenstärkste Publikation dieser Art in Deutschland. Vor allem in den Anfangsjahren erfüllte Dialog eine wichtige Rolle in der systemkritischen Berichterstattung zur polnischen Politik und im Einsatz für ein demokratisches Polen. Kerski stieß Ende der 1990er-Jahre zur Redaktion; der gebürtige Danziger ist sich der Bedeutung seiner Arbeit bewusst: „Ohne Publikationen wie Dialog wären wir im Verständigungsprozess nicht so weit gekommen, wie wir jetzt sind.“

Bescheid wissen

Auch von staatlicher Seite hat man die Rolle der Medien im Bezug auf Integration verstanden und mit dem internationalen Radioprogramm des RBB, Radio Multikulti, ein Pionierprojekt ins Leben gerufen. Natürlich sind auch die Polen dabei und so wird von Montag bis Freitag um 19 Uhr jeweils eine halbe Stunde Programm in polnischer Sprache gesendet. Jacek Tyblewski, 42, leitet die polnische Redaktion im altehrwürdigen Haus des Rundfunks an der Masurenallee in Charlottenburg. Zusammen mit einem Team von freien Mitarbeitern berichtet er über alles Wissenswerte, was die polnischen Berliner so interessieren könnte. Eine Literaturveranstaltung mit einem Autor aus Polen? Sehr wahrscheinlich war er schon vor der Lesung im Multikulti-Studio und gab ein Interview. Ein Zeltlager für polnische und deutsche Jugendliche in Masuren? Auch dazu gibt es Informationen und Kontaktadressen. Eine Besonderheit ist die Sendung „Homo Berlinicus“. Einmal im Monat spricht der popkulturell versierte Journalist Krzysztof Visconti über die neusten Trends in der jungen polnischen Kulturszene, etwa die elektronischen Klangexperimente junger Warschauer wie Neurobot und Baaba oder neue Veröffentlichungen von Rockbands von Kult oder Voo Voo. Visconti: „Gerade die neue Musik und die junge Kunst, die in Polen stattfinden, ist etwas, das hier in Berlin nur von wenigen verfolgt werden kann. Deshalb sorge ich dafür, dass auch kleine und weniger bekannte Bands und Künstler hier ihre Plattform im Radio bekommen.“

Doch nicht nur Medien und Kultur machen das Leben der „Polonia“ aus. Viele Menschen plagen vor allem in den ersten Jahren in einem fremden Land Ängste, die oft auf mangelnden Orts- und Sprachkenntnissen beruhen. Was, wenn man krank wird oder einen Unfall hatte, und wie geht man mit der komplizierten Amtspost um? Diese Erfahrungen seiner Landsleute kennt Witold Kaminski sehr gut und der kleine drahtige Mann mit den langen grauen Haaren wollte etwas tun – helfen. 1982 gründete er den Polnischen Sozialrat, der nicht nur Polen in Berlin bei großen und kleinen Problemen zur Seite steht. Geht es um Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen, Rechts- und Versicherungsfragen oder werden Ärzte und Anwälte gebraucht, die polnisch sprechen - der Polnische Sozialrat hat ihn, den wichtigen Rat. Besonders bei der Unterstützung von Zwangsprostituierten auf ihrem Weg aus dem Teufelskreis zwischen Zuhälter, Illegalität und Schamgefühl hat der Sozialrat wichtige Arbeit geleistet.

Feierabend

Auch Witold Marcinkiewicz wollte die Stimme der Polen vertreten, allerdings auf einer ganz anderen Ebene. Mitte der 1990er-Jahre gründete Marcinkiewicz, Künstler und Teil der Kreuzberger Kiezboheme, in der damals noch nicht ganz so angesagten Schlesischen Straße die legendäre Kneipe Mysliwska, das Jägerstübchen. Anfangs war das Mysliwska erste Anlaufstelle für polnische Kreative auf Berlinbesuch. Immer noch trinkt die Kunstclique dort gern ihr Bier und tanzt bis in die Morgenstunden auf den Tischen. Längst vergangen sind die Zeiten, in denen polnische Emigranten fassungslos vor den bröckelnden Wänden standen und die Renovierung zum Festpreis anboten.

Gerade in der Berliner Subkultur haben sich einige Polen verdient gemacht. Das liegt sicherlich an der geografischen Nähe; aber auch an den wenigen Möglichkeiten, die in polnischen Großstädten jungen, kreativen und anders denkenden Menschen geboten werden. Eine Off-Galerie oder eine freie Theatergruppe zu gründen, ist ungleich schwerer und die Organisation von Konzerten und Lesungen oder gar die Publikation einer eigenen Zeitung oder eines Fanzines scheitern oft an der nicht vorhandenen Infrastruktur. Im Vergleich bietet Berlin einfach die buntere Spielwiese für kreative Köpfe.

Der wohl berühmteste Ort polnischer Subkultur in Berlin: Der 2001 gegründete Club der Polnischen Versager. Eine Gruppe von Theater- und Filmschaffenden, Musikern und Schriftstellern hat ihrem vagen kulturellen Unbehagen ne Manifestation in der Form dieses Ortes gegeben. Lopez Mausere, ein Dramaturg und Performance-Künstler, der Jazzsaxophonist Adam Gusowski und der Schriftsteller Leszek Hermann Oswiecimski gehören zu den Gründern. Entstanden ist der Club als eine Mischung aus Kneipe, Wohnzimmer, Konzert- und Theatersaal. In direkter Nachbarschaft zum stadtbekannten Kaffee Burger gelegen, strömen Touristen, linke Politiker, Künstler oder Soziologiestudenten hinein, um sich am guten Bier aus Polen, gepaart mit Konzert, Lesung, Ausstellung, Performance oder Film, zu erfreuen. Die Gäste stammen nicht unbedingt nur aus Polen. Die Kunst des Versagens ist schließlich international, auch wenn die Polen sie besonders gut beherrschen.

Sich immer wieder neu erfinden

Dazu kommen noch weitere wichtige, schöne und interessante Orte und Initiativen wie etwa das Geheimrestaurant Między nami, das von Warschauer Betreibern der gleichnamigen Szenekneipe der Warszawka – so nennt sich die junge, kreative und gut verdienende Szene in der polnischen Hauptstadt – als Berliner Ableger gegründet wurde. Einen krassen Gegensatz zum Edelrestaurant Chopin im feinen Zehlendorf mit schlesischen Spezialitäten bildet das feministisch-kulinarische Guerillakommando Furia Pierogi, ein von jungen Dreadlockträgerinnen geführtes Koch- und Partykonzept, zu dem in unregelmäßigen Abständen an seltsamen Orten hausgemachte Pierogi gereicht werden. Außerdem ist da die Galerie Miejsce in Schöneberg oder der Deutsch-Polnische Literaturverein WIR e.V. und der Verein polnischer Frauen in Wirtschaft und Kultur Nike e.V. – und nicht zuletzt die Kirche der polnischen Gemeinde am Südstern in Kreuzberg, das Polnische Kulturinstitut, die Botschaft und die Wissenschaftliche Akademie. In vielen Bereichen des Berliner Lebens finden sich Polen,
die hier längst eine neue Heimat gefunden haben, Deutsch sprechen und am Alltag der Stadt teilnehmen, wie sie auch Teile ihrer polnischen Identität darin einbringen. Berlin als ein urbaner Lebensraum mit seiner seltsamen Mischung aus ungeahnten Optionen und wenig Geld bietet ihnen die Möglichkeit Dinge zu tun, von denen sie in ihrer Heimat vielleicht nie geträumt hätten.

Jacek Slaski lebt seit über 20 Jahren in Berlin, hat die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und fühlt sich als voll integrierter Bürger Deutschlands. Zurzeit arbeitet er in der Redaktion des Berliner Stadtmagazins tip. Zuvor war er Autor von Radiofeatures für den WDR, NDR und das DeutschlandRadio. Seit Jahren widmet er sich deutsch-polnischen Kulturprojekten in den Bereichen Literatur, Musik und Kunst. Zusammen mit der Architektin und Künstlerin Anna Krenz betreibt er das ZERO Project, eine Plattform für junge Kunst und Kultur aus Polen.
Thema:
Berlin, Warszawa, Metropolen

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