Wie die Weichsel Welten trennt
Mia Raben

In der Nacht kommen die Neugierigen. Sie schleichen sich an, auf ihrer Suche nach Mitteleuropa, dieser ewig schimmernden Zone zwischen Ostsee, Russland, Schwarzmeer, Adria und dem Westen. Die Spur führt nach Warschau, wo sich hinter den Sandstränden der Weichsel in einem verborgenen Keller die Klänge von Bukarest, Sofia und Belgrad begegnen. Man ist endlich wer, ob so oder so; Understatement und Underground sind genauso wichtig wie die richtigen Visitenkarten im teuren Jackett. Ob das Geld, das beim Ausgehen in Warschau über den Tresen geht, sauber ist oder nicht, steht nicht auf der Getränkekarte. Allzu gerne würden die Stadtplaner den alten Teil Praga mit der neuen Innenstadt verbinden, aber dazwischen liegen Welten. Aufregend ist es allemal.

„Wir haben sogar die Rohre mit eigenen Händen montiert. Wir sitzen niemals still. In einem Monat wirst du den Ort nicht wieder erkennen“, sagt Marcin Brzusak, 34 Jahre alt und Mitgründer von Saturator. „Das ist kein Klub, sondern ein Platz zum Treffen.“ Saturator, „Der Erfüller“ ist ein neuer Stern am kulturellen Himmel von Praga. Im Warschauer Stadtteil Praga hausen die Geister der Vorkriegszeit, in den alten Werkstätten der Schuhmacher und Schneider. Seit ein paar Jahren werden Backsteinruinen und Fabriken in Ateliers verwandelt. Die Ulica 11 Listopada, die Straße des 11. Novembers 1918, ist nach dem Tag der Unabhängigkeit Polens benannt. Bei Nummer 22 geht es rechts in einen Hof. Kahl und ohne Beleuchtung ist er, doch hinten liegt das kleine Teatr Academia, das hier seit 1992 residiert. Vorbei an der Eisentür zum Skład Butelek, da haben die Schwestern Magda und Olga alias die Chefin und die Königin vor etwa einem guten Jahr „keine Kneipe und keinen Klub“, wie sie sagen, gegründet, sondern eben auch einen „Platz zum Treffen“. Sie bieten Musik, Literatur und Bier vor einer Kulisse aus rauen Mauern und Kerzenlicht.

Weiter hinein in den Hof, da endlich hängt ein Hinweis auf die Galerie Saturator. Alles passiert hier nur vorläufig, neue Gründungen sind geplant, die alten verschwinden. Ein Klub braucht eine behördliche Genehmigung, ein „Platz zum Treffen“ nicht. Die Tür steht offen. Dahinter führen dunkle Treppen nach oben und ins Kellergeschoss. Aus dem oberen Stockwerk dringen Stimmen, Rauch und schwaches Licht. In einem großen Wohnzimmer mit einer Bar sitzen drei junge Männer an einem der Couchtische. Die meisten Möbel stammen vom Sperrmüll oder wurden im Internet ersteigert. Es gibt Bier und Zigaretten. Saturator setzt auf rohen Putz, durchmischt mit Kitsch, hier eine pinkfarbige Wand, da ein goldener Spiegel.

Selbstbewusst Underground

Marcin Brzusak stammt aus dem Warschauer Stadtteil Praga. Bisher veranstaltete er mit seiner Gruppe Extraordinara Tanzfeste in Klubs wie dem Aurora auf der westlichen Flussseite. Jetzt ist er zurückgekehrt in sein Viertel und hat seine Gruppe mitgenommen. Marcin serviert Łomża, das Bier aus Nordostpolen, aus der Nähe der weißrussischen Grenze. Es ist gekühlt und schmeckt. „Wir flüchten vor dem Image des Nachtklubs. Wir flüchten vor den Snobs, der Trance-Musik und vor Ronald Mac Donald. Bei uns gibt es gute Musik, Kunst, interessante Leute mit Niveau und eine Atmosphäre wie zu Hause“, sagt Marcin.

Zu Saturator gehören Marcin, die Geschwister Tomasz, 24, Aneta, 29, Walewski und Mikolaj Biberstein-Starowiejski, 29. Marcin ist der Älteste, Tomasz hat Musik studiert, Aneta macht Design. Und Mikolaj? Ist der Feingeist, der Kunstexperte. Das ist das Quartett. Mikolaj Biberstein-Starowiejski sieht aus wie ein Prinz aus dem 19. Jahrhundert. Er schlägt die Beine übereinander und zieht an seiner Zigarette. „Die Orte hier in Praga sind anders als da drüben„, sagt er gen Westen weisend. „Das Klima hier ist etwas ganz Besonderes. Vielleicht könnte man es mit Kreuzberg in den 1980er-Jahren oder mit Soho in New York vergleichen.“ In der Galerie Saturator sollen
Künstler ausstellen, die noch unbekannt sind. Vorbild ist die Galerie raster aus der Warschauer Kunstszene. Sie verhalf einigen polnischen Künstlern zu Erfolgen auf der Art Basel und in New York. Das Markenzeichen von raster ist eine unrenovierte Altbauwohnung – ohne die Sterilität eines postmodernen weißen Galeriewürfels.

Während die drei Jungs über ihr Konzept plaudern, füllt sich langsam der Raum. „Zu uns kommen junge Studenten und Berufsanfänger, viele Ausländer, weißrussische Oppositionelle, Besucher aus Berlin, Asiaten und Amerikaner. Wir wollen, dass sich jeder wie zu Hause fühlt“, sagt Marcin. Ein älteres Ehepaar betritt den Raum und schaut sich wissbegierig um. Unten im muffigen Keller liegen Polster um die Tanzfläche drapiert, aus der Decke ragen unnütze Rohre neben einer Diskokugel. Mikolaj verkündet: „Heute gibt es Balkan-Beat! Sechs verschiedene DJs spielen Chalga, Turbofolk und Manera. Das ist rumänische Diskomusik. Dabei geht’s wie beim HipHop immer um eins; in diesem Fall: Zigeuner, Liebe, Kokain. Und zum Abschluss spielen wir Heino!“, sagt er und zwinkert. Heute ist sein Freund aus Wien dabei: Simon Mullan, Multimediakünstler. Mullan hat seine Videokamera immer aufnahmebereit in der Hand. Er überlegt, ganz nach Praga umzusiedeln. „Meine polnischen Freunde bezahlen 100 Euro im Monat für ein riesiges Atelier. Das Klima ist toll, die Atmosphäre besonders“, so Mullan. Eine Spielwiese für Experimente.

High Heels oder Design muss sein

„Wir? Nein, wir experimentieren nicht, wir sind professionell“, meint spät in der Nacht eine schwarzhaarige Schöne auf der westlichen Seite des Flusses. Kinga Dyakowska ist PR-Managerin im Foksal 19, einem Nachtklub der Luxusklasse im Zentrum Warschaus. Hier gibt es keine offenen Türen, dafür lagern zwei Fleischberge in Sakkos vor dem Eingang. Krawatten schnüren die Stiernacken ein, verkabelte Knöpfe hängen aus ihren Ohren. Das Eingangstor des neogotischen Prachtgebäudes, von Scheinwerfern angestrahlt, öffnet und schließt sich schnell. Im Foyer ist alles edel, mit hohen Decken und vielen Säulen. Hinten im Raum leuchtet die Bar aus Marmor wie eine Verheißung. Männer zwischen dreißig und vierzig betreiben geschäftige Entspannung mit jüngeren Frauen, die zu zweit oder zu dritt, in Cocktailkleidchen, auf gefährlich hohen Absätzen balancieren.

Im ersten Stock wartet die Nacht auf ihre Kinder, die sich den Mut zum Tanzen antrinken. Der DJ spielt kommerzielle House Music, begleitet von einem zahmen Bongospieler. Kingas Puppenaugen leuchten im blau-violetten Licht, auf einem großen Foto turnen Models, die sich in der Sonne auf einer Yacht vergnügen. „Wir wollen das Klubleben von Paris und London adaptieren“, sagt Kinga Dyakowska, die „Managerka“. Sie trägt Hacken zum Aufspießen, enge Röhrenjeans und einen schwarzen Rollkragenpulli, eine Mischung aus Schneewittchen und Sphinx. „Ich habe Psychologie studiert“, sagt sie und lächelt. „Hier hat schon das Magazin Playboy seine Betriebsfeier gegeben.“ Dann folgt der Auftritt einer der Chefs. Mariusz Grabowski gibt sich pressescheu. Er guckt auch ungern in forschende Augen. Was ihm am wichtigsten sei? „Eine wirklich gute Frage“, überlegt er, während langsam sein Lächeln erfriert. „Sprechen Sie doch bitte mit unserer Kinga hier“, sagt er und entschwindet. Sonntags führt Kinga ihre schwarze französische Bulldogge namens Trol im Park Pole Mokotowskie aus. „Da betreiben Mariusz und Dariusz das Lolek, eine Grillkneipe. Zum Imperium gehören ebenfalls der Hades, eine Studentendisko, und die Dekada, eine Tanz-Bar mit alten Hits“, sagt sie.

Unsere Stadt soll schöner werden

Hier vergnügt sich auch Jaroslaw Krajewski, lieber als in Praga. Krajewski hat Visionen für seine Heimatstadt. Der 24-jährige Politologe arbeitet im frisch renovierten Säulenpalast am Plac Bankowy für den Warschauer Stadtpräsidenten. Kazimierz Marcinkiewicz war einmal Premierminister. Marcinkiewicz hat seinen Stab, darunter Krajewski, mit in die Stadtverwaltung genommen. Die europäischen Weltstädte – das sind Krajewskis Vorbilder für Warschau. Eine ganze Wand bedeckt eine Luftaufnahme der Stadt, die Weichsel teilt die Stadt in zwei Hälften. Krajewski träumt von einer Verbindung: „Die Soziologie der Stadt verlangt nach einer Fußgängerbrücke. Ich will das Zentrum mit Praga verbinden.“ Dann streicht er sich die Krawatte glatt und sagt: „Warschau soll das Zentrum Mitteleuropas werden! Das ist ein neues Abenteuer.“

Mia Raben arbeitet als freie Journalistin; sie lebt in Berlin und Warschau, schreibt hauptsächlich für Spiegel Online, die Berliner Zeitung und tazzwei. Besonders beeindruckt ist die Tochter einer polnischen Mutter vom Aufbruch der Polen in das neue Europa.
Thema:
Berlin, Warszawa, Metropolen

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Jacek Słaski ist in Deutschland mit einer polnischen Mutter und einem deutschen Vater aufgewachsen. Mit seiner Galerie zero ist ihm ein Stück Terra Polska mitten in Berlin gelungen.
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