Wie sich Stadt und Land im Fluss der Zeit verändern
Paul Flückiger

Handy, Internet, Giro-Konto, Visa-Card – hier geht noch was. Die Metropolen legen zu, doch auf dem Land sieht das Leben ganz anders aus. Während in Warschau die Skyline wächst und die Büromieten auf das Niveau von New York oder London hochschnellen, Werbeflächen für Coca-Cola oder Internet-Anbieter die maroden sozialistischen Häuserfassaden verdecken und Fast-Food-Ketten die Bigos-Imbisse vertreiben, bleiben die Einkommensunterschiede zur Provinz enorm. Hier garantiert nur das Hausschwein die temporäre Existenzsicherung, hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Dörfer schlummern, teils ohne Stromversorgung und Telefonverbindung, seit Jahrzehnten im Dornröschenschlaf, die Arbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent. Das Schienen- wie das Straßennetz schreien nach Modernisierung, das Projekt der privat finanzierten Autobahn Berlin-Warschau liegt immer noch auf Eis. Aufwachen, Dornröschen!

Streckenweise ist die Landstraße zwischen Zielona Góra/Grünberg und Poznań/Posen mit Leitplanken versehen, die Fußgängerstreifen sind erneuert und in der Nacht weisen Reflektoren den Weg. In Steszew, 30 Kilometer westlich von Poznań, durchschneidet die Verkehrsader das Dorf, als würde sie eine neue Zeit ankündigen – eine Zeit der eingehaltenen EU-Normen und europäischen Sicherheitsregeln. Doch auf halber Strecke Richtung Süden nach Mosina zeigt sich Polen wieder so, als sei seit dem EU-Beitritt im Mai 2004 nichts geschehen. Eine löchrige Schotterstraße führt an einer grauen Schweinemastanlage vorbei ins Dorfzentrum von Stare Dymaczewo. Hier hat der kleine Laden für den täglichen Bedarf seit der Wende nur sein Sortiment geändert. Der Landwirt Jan Watrowicz ist im Grunde immer noch gegen die EU. Wenngleich – das muss er als Wähler der konservativen Kaczyński-Zwillinge zugeben – sein Einkommen in den letzten beiden Jahren gestiegen sei. „Doch die Preise! Unvorstellbar!“, jammert der untersetzte Mann mit dem Lech-Wałęsa-Schnurrbart.

Tatsächlich stehen landesweit einem bäuerlichen Mehreinkommen von durchschnittlich 50 Prozent Preiserhöhungen etwa bei den Düngemitteln von gut 30 Prozent gegenüber.

Wo Milch und Honig fließen

Zu den großen Gewinnern des EU-Beitritts zählen in Polen die Bauern – immerhin 1,8 Millionen oder mindestens jeder zehnte Erwerbstätige. Auch in Stare Dymaczewo ist dies zu sehen: Auf einigen Höfen warten neue Landmaschinen auf ihren Einsatz, Häuser leuchten in frischem Farbglanz. Doch die Gemeinde ist immer noch arm; eine Kanalisation existiert nicht und von einer Asphaltstraße wagt im Dorf niemand zu träumen. Jan Watrowicz braucht keine geteerten Straßen, mit seiner ersten großen Investition erstand er einen neuen Traktor. „Die EU nämlich“, raunt der wettergegerbte Alte verschwörerisch, „übernimmt die Hälfte der Summe bei einer Neuanschaffung!„ Brüssel traut er deswegen dennoch nicht über den Weg. Volkswirtschaftlich allerdings hat sich der Problemfall „polnische Bauern“ in eine Erfolgsstory verwandelt: Um über 60 Prozent konnte das Land seine Lebensmittelexporte seit 2004 steigern. In die Europäische Union exportieren die Bauern roh und verarbeitet vor allem Fleisch, Milch und Gemüse.

Das Leben hat seinen Preis

Den Preis für die große Nachfrage polnischer Lebensmittel im Ausland zahlen die Polen
vor allem in den Städten. Doch in der Posener Industriemetropole klagen trotz Preissteigerungen für Lebensmittel von rund acht Prozent nur einige wenige. Denn die hiesigen Industriebetriebe haben mit zum Exportboom quer durch alle Branchen beigetragen, seien das nun Beiersdorf-Lechia, Nestlé-Goplana oder Volkswagen-Poznań. Die Namen sprechen für sich: Zu 60 Prozent ist ausländisches Kapital an der phänomenalen Exportsteigerung von jährlich fast 25 Prozent seit dem EU-Beitritt beteiligt – darunter viele mittelständische Betriebe aus Deutschland, die ihre Produktion ins östliche Nachbarland auslagern. Polens Wachstumsrate liegt bei etwa fünf Prozent. Vielleicht auch deshalb hat Poznań bei den Parlamentswahlen liberal gewählt. Die engstirnigen, den Marktkräften misstrauenden Zwillingsbrüder Lech und Jarosław Kaczyński als Präsident und Regierungschef fanden dagegen eher unter den Rentnern Unterstützung.

Arbeit und Lohn

Eine investorenfreundliche Politik kann man den Kaczyńskis nicht nachsagen. Dennoch haben sich die internationalen und nationalen Anleger bisher selbst von den populistischen Sprüchen der rechtsextremen, ultra-katholischen Koalitionspartner nicht abschrecken lassen. Die ausländischen Direktinvestitionen sind in Polen zwar seit 2004 im Unterschied zu den regionalen Standortkonkurrenten Ungarn, Tschechien und der Slowakei zurückgegangen, doch als hoffnungslos eingestufte Krisenstädte mit Arbeitslosenraten von 20 Prozent und mehr wie in Łódź konnten seit dem EU-Beitritt erhebliche Greenfield-Investitionen anziehen. So entschied sich der amerikanische Computerhersteller Dell, einen Teil seiner europäischen Produktion von Irland nach Polen zu verlagern. In Łódź könnten so 12.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Niedrige Immobilienpreise, gut ausgebildetes Personal und Lohnkosten, die 30 bis 40 Prozent unter denen Poznańs liegen, haben den Ausschlag für Łódź gegeben. Zuvor siedelten sich bereits Bosch, Siemens und Gillette in der ehemaligen Textilhochburg an. Sie alle tragen dazu bei, die EU-weite Rekordarbeitslosigkeit von landesweit durchschnittlich 17 Prozent zu senken – Polen musste seit 2000 einen Anstieg von 2.702.600 Arbeitslosen innerhalb von vier Jahren auf 3.618.500 verzeichnen. Allerdings ist Arbeitslosigkeit in Polen auch ein strukturelles Problem: Zehntausende befinden sich über einen langen Zeitraum hinweg auf Arbeitssuche, da ihre meist noch zu kommunistischen Zeiten erworbenen Qualifikationen den neuen Ansprüchen bei weitem nicht mehr genügen. Ein Mangel an guten Fachkräften ist zu verzeichnen, viele sind im Zuge des EU-Beitritts nach Irland und Großbritannien ausgewandert. Beide Länder öffneten sofort ihren Arbeitsmarkt für die neuen EU-Bürger. Vor allem Ingenieure, Schweißer und Bauarbeiter, aber auch medizinisches Personal werden inzwischen händeringend in Polen gesucht. In ausgesuchten Branchen schnellen die Löhne nach oben. Neu gegründete Firmen versuchen, die ausgewanderten polnischen Staatsbürger wieder aus dem europäischen Ausland zurückzuwerben.

Im Schneckentempo

Łódź ändert sein Antlitz. Einerseits bleibt die Bedeutung für die Textilindustrie, andererseits startet die zweitgrößte Stadt Polens vor allem als Wirtschafts- , Wissenschafts- und Kulturzentrum durch. Łódź könnte von seiner Nähe zum politischen und finanziellen Zentrum Warszawa profitieren, doch die daniederliegende Infrastruktur verhindert große Sprünge. Zwar werden seit Jahren Flughafenausbau, Schnellbahn und Autobahnen auf dem Reißbrett geplant, doch bis mindestens 2012 müssen die 140 Kilometer vom ehemaligen Textilzentrum in die polnische Hauptstadt mühsam im Zotteltempo mit der sehr langsamen Regionalbahn zurückgelegt werden. Mit dem Auto fährt es sich zwar schneller, aber auch wesentlich gefährlicher: In der Hitze des Sommers bilden sich auf dem Asphalt regelmäßig tiefe Spurrinnen. Eine Autobahn zwischen Łódź und der Hauptstadt existiert nicht – in ganz Polen sind kaum 500 Autobahnkilometer befahrbar.

Im Glanz der neuen Fassaden

Dennoch sieht sich, wer in Warszawa nach all den Mühen der Fahrt eine verschlafene post-sozialistische Hauptstadt erwartet, getäuscht. Hier, wohin der Löwenanteil der Investitionen fließt, wachsen Geschäftshäuser und Luxushotels in immensem Tempo aus dem Boden. Hier boomt nicht nur der Immobilienmarkt, sondern auch die Börse – beide mit zweistelligen Zuwachsraten. An der Warschauer Börse hält der Höhenflug im dritten Jahr in Folge an. Auch dem Bankensektor, zu 70 Prozent in ausländischer Hand, werden große Zuwachsraten vorhergesagt – besitzt doch nur die Hälfte aller Polen überhaupt ein Girokonto. Gerade in Warszwawa zeigt sich die Wirtschaft gegenüber politischen Launen ausgesprochen resistent.

Wo die Füchse gute Nacht sagen

Anders sieht es dagegen in Czeremcha, drei Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt, aus. Hier, am Rande des letzten Urwalds am nordöstlichen Zipfel Polens, der Puszcza Białowieska, sind die Holz-Kombinate längst geschlossen, die staatlichen Großfarmen zerfallen. Fast jeder Zweite hat keine Arbeit - keine Seltenheit an der so genannten „Ostwand“, die von Masuren an der Grenze zum russischen Kaliningrader Gebiet bis in den Südosten Polens, an das zur Grenze der Ukraine gelegene Podkarpatien, reicht. Viele Bewohner dieser Gebiete leben vom kleinen Grenzschmuggel und dem Sammeln von Pilzen und Beeren. Lebensqualität und Löhne sind in Ostpolen weniger als halb so hoch wie im Umland der Hauptstadt. Rund zwanzig Einheimische, fast ausnahmslos im Rentenalter, ergattern an einem nebligen Herbstmorgen einen Sitzplatz, um mit dem alten Schienenbus ins knapp 10 Kilometer entfernte Vysokolitovsk zu fahren. Umgerechnet drei Euro und zehn Cent kostet die Reise nach Weißrussland – viel Geld in einem Dorf wie Czeremcha. Doch die Investition rechne sich: Nur Zigaretten und Wodka kaufe sie, behauptet eine alte Frau mit von Falten zerfurchtem Gesicht, alles andere lohne sich heutzutage nicht mehr. Für eine gute halbe Stunde hält der Zug im Nachbarland, bevor er wieder zurück nach Polen fährt. Wer den verpasst, muss bis zum Abend warten. Kaum ist der Zug in dem schmucklosen Bahnhof eingetroffen und die weißrussische Grenzpolizei ausgestiegen, trippelt die Gruppe der Reisenden mit schlingernden Säcken und leeren Taschen über den matschigen Vorplatz auf eine unverputzte Häusergruppe zu. Dass es dort etwas zu kaufen gibt, kann nur der Eingeweihte erahnen. „Was wollen Sie? Von irgendetwas müssen die Leute ja leben“, kommentiert der polnische Grenzbeamte.

Paul Flückiger, geboren 1966 in Huddersfield/GB, lebt seit Juni 2000 als freier Korrespondent in Warszawa, von wo aus er acht mittel- und osteuropäische Beitrittsländer bei ihren ersten Schritten in der Europäischen Union begleitet. Er schreibt insbesondere über die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der Ukraine, Weißrussland und in Polen. Paul Flückiger ist Osteuropa-Korrespondent der NZZ am Sonntag.
Thema:
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