Die Medusa Group krempelt die Ärmel hoch
Silke Kettelhake

Mitte der 1990er-Jahre gründeten mutige junge Architekten, die häufig im Ausland erste Erfahrungen sammeln konnten, ihre Büros in Polen. In einem Umfeld, in dem die Baukultur nicht besonders hoch ausgeprägt ist und das vor allem durch finanzielle Einschränkungen und juristisches Chaos bestimmt wird. Die früheren Raumpläne haben längst ihre Gültigkeit verloren, nur für fünfzehn Prozent der Landesoberfläche gibt es aktuelle Pläne. Experimente wagen, Bezugspunkte für die eigene Kreativität finden – ein Heimatgefühl entwickeln, allen Widrigkeiten zum Trotz. Die Arbeiten der Medusa Group etwa sind im devastierten Kontext postindustrieller Stadtteile zu finden: zwischen Gliwice und Katowice, der Region der ewig grauen Gardinen.

Przemo Łukasik, Architekt, lebt mit seiner Frau Joanna fast in den Wolken – der Blick aus dem Fenster seines neuen Eigenheims im „Bolko Loft“ in Bytom, Beuthen, geht tief hinunter auf die Wüstenei der verlassenen Kohlegruben. Vor einigen Jahren noch wechselten in den Räumen des mit Eisentreppen bewehrten Kubus die Bergarbeiter in ihre verdreckte Arbeitskleidung, bevor der Fahrstuhl sie tief in die Erde herabsinken ließ.

Doch das Zeitalter der Industrialisierung ist fern wie ein vergangenes Leben, die Minen sind ausgeschöpft und die Arbeitslosigkeit liegt wie ein schwerer Schatten über den Menschen in Oberschlesien. Mit rund 4,7 Millionen Einwohnern auf 12.294 Quadratkilometern bildet das Ballungsgebiet Oberschlesien die am dichtesten besiedelte Wojewodschaft Polens. Von hier aus planen Przemo Łukasik und Łukasz Zagała ihre neuen Häuser für eine neue Zeit: Reurbanisierung, Strukturwandel, das sind die Schlagworte, die vielleicht Hoffnung verheißen können. Die europaweite Entwicklung der städtischen Regionen – hier ein mehr oder minder historischer Stadtkern, da die Einkaufs- und Industriezonen – wollen die beiden Sneakers-Träger im sich wandelnden Polen vermieden wissen. Hier ist noch viel zu tun, packen wir`s an! Aber auf unsere Art, das strahlen sie aus. Warum das so ist und was das Geheimnis der Medusa Group ist, dem geht das Interview auf die Spur. Der Blick der Medusa ließ jeden zu Stein erstarren, der sie ansah, so die griechische Mythologie ...

Wie lässt sich die Medusa Group beschreiben?
Wir sind zwei, Przemo Łukasik und Łukasz Zagała, und damit eine Gruppe! 1996 gründeten wir die Medusa Group als einen informellen Zusammenschluss in Berlin. Bei uns gibt es eine spezielle Gruppendynamik, kurzfristig engagieren wir Fachleute, die wir kennen; aber wir verstehen uns in erster Linie nicht als Unternehmensführer und Arbeitgeber. Auch bei uns gibt es eine Form der Hierarchie, doch wir sind offen. Wir hören zu. Darin liegt schon ein bestimmter Spirit, in dem, was wir tun und wie wir es tun. Jedenfalls benutzen wir lieber die Bezeichnung der Medusa Group, als
unsere beiden Namen in den Vordergrund zu stellen.

Rekrutiert ihr eure Ideen aus einem bestimmten think-tank?
Kollektives Denken nennen wir das. Wir arbeiten mit Studenten und Absolventen der Architektur wie auch des Ingenieurswesens zusammen, eben mit Freelancern. Zwar entwickeln wir gemeinsam die Projekte, aber wir arbeiten unabhängig voneinander. Jeder ist dafür verantwortlich, was sie oder er betreut.

Aus welchen Gründen seid ihr nach Polen zurückgekehrt?
Das ist doch das Allerwünschenswerteste für junge Architekten, mitzuhelfen, ihr Land zu gestalten! Nach zwölf Jahren zurückzukommen, das war das Größte. Als wir in Berlin ansässig waren, schien plötzlich die polnische Grenze mit einem Mal nur noch einen Katzensprung entfernt. Da kommt man schon ins Überlegen und wir wollten unser eigenes Ding aufziehen. Vielleicht war es auch eine Art Heimweh; Przemo Łukasik studierte in Paris und arbeitete auch dort, wir wollten zurück. Wir stellten fest, dass wir in Polen die besseren Perspektiven haben – und das hat sich nicht nur in den letzten Jahren bewahrheitet. So beschlossen wir, erwachsen genug zu sein für das Wagnis.

Ist hauptsächlich Schlesien eure Wirkungsregion?
Seit ein paar Jahren kommt der wirtschaftliche Aufschwung hier an. Die wichtigste Stadt wird immer Warschau bleiben, da laufen die Fäden zusammen. Die Rangfolge setzt sich mit Posen, Breslau und Danzig fort, dann erst kommt die ehemalige Bergbauregion. Schlesien ist zurzeit so etwas wie eine perfekte Spielwiese – weil es eine hohe Konzentration von Industrie gibt; gute Voraussetzungen für Architekten, wenn man so will. Zugleich aber fahnden wir in ganz Polen nach Aufträgen. Sie sind nicht groß, aber es rechnet sich.

Steht die Medusa Group für einen bestimmten Einfluss in der modernen polnischen Architektur?
Sicherlich spielen die regionalen Aspekte eine große Rolle; aber ich denke, wir sind in erster Linie Architekten der neuen Generation in Polen, mit einem Background, der nicht nur auf der reinen Architektur fußt. Ich könnte mir genauso vorstellen, an einer Ausschreibung in Sao Paulo teilzunehmen, warum nicht? Wir sitzen hier nicht fest! Wir werden immer weiter suchen nach dem, was ein menschliches Wesen dem anderen geben kann, gerade wenn die ursprünglichen Kulturen einander fremd sind. Alles ist eine Frage des Dialogs.

Arbeitet die Medusa Group für internationale Klienten?
Nein, wir arbeiten eher für polnische Kunden. Wir nehmen auch Aufträge von Unternehmen an, aber das Gros unserer Kundschaft liegt im privaten Sektor, hier verzeichnen wir gerade eine explosionsartige Entwicklung. Öffentliche Gelder akquirieren wir nicht.

Würden Sie auch für die Nouvelle Riche arbeiten?
Davon gibt es immer mehr – viele jedenfalls, die sich gerne dazuzählen würden! Ein Albtraum für anspruchsvolle Architekten. Die Nouvelle Riche denkt in den Determinierungen, die sie gut kennt: Geld. Mit Stil hat das nichts zu tun.

Erlebten Sie die ersten Jahre in Polen als eine große Herausforderung? Und würden Sie sich nun als etabliert bezeichnen?
Unser Büro haben wir zu einem glücklichen Zeitpunkt gegründet. Die ersten drei, vier Jahre war es nicht sehr einfach, aber es war wenigstens so viel los, dass wir in den Wettbewerb mit anderen Architekten gehen, an immer größeren Ausschreibungen teilnehmen konnten. Heute mag ein Anfang für Studienabgänger sich in Polen schwieriger gestalten. Den wirtschaftlichen Boom gab´s in den 1990er-Jahren – aber damals, gerade zurückgekehrt, waren wir zu jung und zu unerfahren, um sofort groß einzusteigen. Mit der Jahrtausendwende kam die Rezession, aber es ist ja immer ein Auf und Ab.

Wäre die Arbeit von Architekten unter den Repressalien der kommunistischen Ära denkbar gewesen?
Ach, wenn man unbedingt als Architekt arbeiten will, dann muss man sich die guten Zeiten eben suchen. Man muss sie gestalten! Kreativität heißt nicht, vor Schwierigkeiten die Augen zu verschließen; man muss sich ihnen stellen und das Beste daraus machen. Vielleicht war es auch zu etwas gut, dass unsere Starts ins Berufsleben nicht allzu einfach waren: Das Leben in Metropolen wie Paris oder Berlin ist teuer – und wir waren wirklich arm. So lange es ging, futterten wir aus den polnischen Essenspaketen unserer großartigen Mütter. Okay, wir hatten kaum Geld, aber das gaben wir für die richtigen Computer aus, mit denen wir dann in den Büchereien saßen. Kultur ist sehr wertvoll, besonders, wenn man sie sich kaum leisten kann.

Sie unterrichten heute selbst. Wie erleben Sie Ihre Studenten?
Wenn ich heute so meine Studenten sehe ... Es gibt einfach alles an Informationen, dank dem Internet und den inzwischen auch in Polen bestehenden gut sortierten Buchhandlungen. Eigentlich fehlt es an nichts. Aber Tatsache ist: Sie wissen nichts. Denn die meisten meiner Studenten kennen nicht diesen Wissensdrang, die Sehnsucht nach Dingen, von denen man vielleicht noch nie gehört hat, die man sich noch nicht einmal vorzustellen vermag. Unsere Leidenschaften waren unsere Obsession. Als wir etwa eine Monographie für 25 Euros erstanden, fühlten wir uns so, als wenn wir ein Auto kaufen würden.

Glauben Sie, dass Polen reif ist für eine neue Architektur?
Polen mag sich vielleicht noch immer in einer Entwicklungsphase befinden, aber es gibt keine Entschuldigungen mehr. Avantgarde darf nicht länger unvorstellbar bleiben. Während der 45 Jahre des Kommunismus riss die Kontinuität im modernen Bauen, im modernen Denken ab.

Gerade in Schlesien waren die Jahre vor dem Eisernen Vorhang die großen Jahre. Darum fühlen wir uns als Architekten ein wenig, als müssten wir die Klienten wieder erziehen, sie an anspruchsvolles Bauen heranführen. Das heißt nicht, wir können alles besser, aber es ist unser Beruf! Wir sind´s, die wissen, wie es geht. Doch wir müssen uns stetig weiterentwickeln und neu orientieren, um aktuell zu bleiben. Deshalb teilen wir unser Wissen und unser Denken, um immer wieder den Horizont zu erweitern.

Kann man zwischen dem Ruhrgebiet und Schlesien einen Vergleich ziehen?
Bezüglich der Industrialisierungsgeschichte, sicherlich, aber hinsichtlich Strukturwandel und Revitalisierung – da gibt es in Polen eben leider keine Programme wie die IBA (Internationale Bauausstellung). Und wir denken, dass die polnische Gesellschaft gemeinsam mit den Architekten die neue Sicht aufs Bauen entwickeln muss. Doch die Planer und die Politiker bleiben die Entscheider.

So etwas wie der Zollverein in Essen oder der Duisburger Hafen – das sind große Projekte, so etwas gibt es hier noch nicht. In Schlesien werden zurzeit vor allem Einkaufszentren gebaut. Jetzt wird man sich gerade erst klar darüber, dass wir uns im postindustriellen Zeitalter befinden. Das ist ein Prozess der Bewusstwerdung.

Wie sieht es mit Hilfestellungen vonseiten der Europäischen Union aus?
Es gibt zahlreiche Fördermittel – und wir haben inzwischen nicht nur Kunden/innen, die finanziell gut dastehen, sondern auch in der Lage sind, den papiernen Aufwand für die Antragstellungen auszufüllen. Wir werden etwa einen alten Wasserturm aus der Zeit der vorigen Jahrhundertwende in ein Museum für moderne Kunst umwandeln, hier wird es ausreichend Platz für Performances geben. Geld von der Europäischen Union ist zu einem wichtigen Schlüssel geworden. Ein Beispiel ist die Autobahn zwischen Gleiwitz und Kattowitz, die für uns immer noch neu ist. Meine Frau, die in Kattowitz arbeitet, ist oft vor mir zu Hause. Sie nimmt schnell die Autobahn.

Gibt es Arbeitsangebote, die Sie ablehnen würden?
Jetzt sind wir in einer sehr vorteilhaften Situation. Nicht allzu viele Kunden in Polen kennen uns, aber manch einer hat von unserer Arbeit gehört – und die rufen uns nicht nur an, sie vergeben Aufträge. Die meisten unserer Klienten wissen, wie unsere Idealvorstellungen von Architektur aussehen. Sie suchen uns gezielt auf. Wenn sie etwas anderes wollen, bitte, es gibt genug Architekten. Sicherlich müssen wir manchmal Aufträge ablehnen. Wir können die Kunden nicht ändern, weil wir anders denken. Nein, es ist besser, sich miteinander anzufreunden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Silke Kettelhake ist fluter.de-Redakteurin für den Bereich Film im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie arbeitet als freie Journalistin für die taz, Jungle World, de:bug, das ifa-Magazin und andere. Zuvor montierte sie als Cutterin Musikclips und Werbung.
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